To read this article in English, please scroll down. Da geht es direkt los. Ich muss endlich rausfinden, wie ich es hinbekomme, dass meine armen englischsprachigen Leser nicht immer durch den ganzen deutschen Artikel scrollen müssen, um die englische Version zu finden. Das muss ich schon seit Wochen. Und habe es trotzdem noch nicht gemacht. Ich muss auch unbedingt jeden Freitag einen neuen Artikel veröffentlichen. Und ich muss, während ich diesen Artikel schreibe, unbedingt noch zwei Ladungen Wäsche waschen und daran denken, unseren Putzmann zu bezahlen, den ich im Hintergrund rumoren höre. Und ich muss endlich meditieren lernen und aufhören, Kaffee zu trinken.
An einem einigermaßen normalen Tag bin ich so gegen 10 Uhr vormittags vermutlich schon bei ungefähr 328 Müssens, die ich noch abarbeiten muss (argh!). Neulich habe ich mit einer Freundin übers Loslassen gesprochen. Sie hat da so ein paar Dinge, die sie gern loslassen möchte – und irgendwie will es nicht gelingen. Jedenfalls nicht so, wie sie sich das vorstellt, glaube ich. Da es mir naturgemäß ziemlich leicht fiel, ihr zu sagen, was sie alles loslassen soll (sollen ist irgendwie auch schon wieder ganz schön nah an müssen dran…), habe ich mal drüber nachgedacht, was ich selbst eigentlich alles loslassen könnte.
Das ist für mich als Leistungskind gar keine leichte Übung. Ich definiere mich ja zu einem großen Teil über meine inneren Checklistenpunkte, die ich abzuhaken habe. Grundsätzlich spricht da auch nichts gegen, denn meine größten Antreiber „Beeil Dich“ und „Sei stark“ haben mich maßgeblich dorthin gebracht, wo ich heute bin. Gleichzeitig könnten sie gern ab und zu mal ihre Peitschen wegpacken und die Klappe halten. Mich sein lassen, mit all meinen Unzulänglichkeiten, Fehlern und, igitt, Imperfektionen. Es geht nämlich in Wirklichkeit gar nicht um To Do-Listen, sondern um das Annehmen meiner Selbst. Oder, ganz pathetisch ausgedrückt: um Liebe. Dafür braucht es, denke ich, eine intensive Auseinandersetzung mit uns selbst. Und die versuchen wir nur allzu oft durch permanente Aktion und Deflektion zu vermeiden. Schnell, gebt mir ein Smartphone, ich sitze schon seit 10 Sekunden untätig herum!
Wo lohnt sich das Müssen wirklich?
Das Müssen halte ich für eine andere Form von Deflektion. Es ist sozusagen ein drängender Impuls, der oft zunächst von außen kommt und sich dann auf unser Inneres überträgt. Selten hinterfragen wir dieses Müssen. Manche „Müssens“ sind schon so uralt, dass wir glauben, sie gehören zu uns. Ich denke, es lohnt sich, genau dort mal hinzuschauen:
- Wo lohnt sich das Müssen wirklich?
- Wo nicht?
- Wo lässt sich das Müssen durch ein Können oder ein Dürfen ersetzen?
- Wo gar durch ein Wollen?
Aber wie geht das praktisch? Ich finde, auch hier hilft es wieder, mich zu fragen, wofür es gut wäre, wenn ich xy hätte/könnte/wäre. Und wofür das dann gut wäre. Und wofür wiederum das gut wäre. Und so weiter. Wenn ich dabei irgendwann auf einen Wert stoße, dann könnte es sein, dass dieses Müssen sich lohnt. Meine Erfahrung im Coaching sagt, dass es im Schnitt 5 Mal die Frage „Wofür wäre das gut“ braucht, bis der Wert kommt. So kannst Du zum Beispiel gut rausfinden, ob es sich um alte Glaubenssätze handelt, die mit Dir bei genauerer Betrachtung wenig bis nichts zu tun haben, oder ob da mehr hintersteckt. Diese alten Glaubenssätze sind ganz oft ein Produkt unserer Sozialisation. Wenn mir zum Beispiel ein für mich wichtiger Erwachsener im Laufe meiner Kindheit immer wieder signalisiert, dass ich nur okay bin, wenn ich mich auf eine bestimmte Weise verhalte, dann ist die Chance (oder Gefahr) groß, dass daraus ein Glaubenssatz für mich wird. Ein Beispiel könnte sein: Ich bin nur liebenswert, wenn ich gefalle. So entstehen im übrigen, stark vereinfacht erklärt, auch die oben erwähnten Antreiber. Ich zum Beispiel trage tief in mir den Glaubenssatz: Ich bin nur okay, wenn ich schnell bin. Das gilt bei mir sowohl fürs Handeln als auch fürs Denken.
Wenn ich also solche mächtigen Glaubenssätze habe, führen sie mich fast automatisch ins Müssen. Wichtig ist mir dabei, dass ich gar nichts gegen Glaubenssätze habe. Sehr oft sind die sehr hilfreich! Systemisch ausgedrück: Alle Glaubenssätze sind Kompetenzen und haben eine positive Absicht. Entscheidend ist, ob ich sie erkenne, sie dann reflektiere und prüfe, inwiefern sie mir gut tun. Dafür ist der Kontext mal wieder extrem wichtig. Nicht in allen Situationen ist jeder meiner Glaubenssätze mein Freund, positive Absicht hin oder her.
Was ich ebenfalls herausfordernd finde beim Loslassen, ist, dass ich mir ja nun mal leidenschaftlich gern Ziele setze und verfolge. Und erreiche. Außerdem sind Ziele ein wesentlicher Teil meiner Coachings und Trainings. Und Ziele beinhalten doch auch immer ein Müssen. Oder nicht? Ein gesetztes Ziel, das auf dem Weg (oder schon bereits vor dem Start) wieder losgelassen wird, löst zunächst großen Widerstand in mir aus. Das fühlt sich nach Versagen an. Wenn ich da nun aber mein noch stärkeres Motiv, die Klarheit, drüberlege, dann merke ich schnell, dass beides einander bedingt: Durch das Loslassen habe ich mehr Klarheit (aka Fokus auf die wesentlichen Ziele, die ich erreichen WILL, nicht muss), durch die Klarheit, die ich durch die Frage nach dem Wofür erreiche, kann ich leichter loslassen. Vielleicht möchtest Du das jetzt sondieren und mich fragen: „Was kommt zuerst, hast Du mehr Klarheit, wenn Du loslässt, oder lässt Du leichter los, wenn Du Klarheit hast?“ Ich muss Dich enttäuschen. Es ist tatsächlich beides. Und das macht es so kraftvoll, glaube ich.
To Do-Listen sind total okay. Sie geben Struktur und parken Dinge aus Deinem Hirn auf einem Blatt Papier, damit Du wieder mehr Platz für wichtige Gedanken hast. Ich lade Dich lediglich dazu ein, diese Listen zu hinterfragen. Besonders wenn sie gar nicht Deine To Dos enthalten, sondern die von anderen. Das nächste Mal, wenn Du denkst oder Dich sagen hörst: „Ich muss noch…“, halte Dich vielleicht an Helmut Schmidt. Der soll auf nervige Fragen von Journalisten immer mal wieder gesagt haben: „Wo steht das?“ Selbstverständlich nachdem er zunächst einen ordentlichen Zug von seiner obligatorischen Zigarette genommen hatte. Das kannst Du weglassen.
Vielleicht lohnt es sich auch, statt an Deiner To Do-Liste öfter mal an Deiner Bucket-Liste zu arbeiten. Oder auch Löffel-Liste, wie ich kürzlich gelernt habe. Das ist die Liste der Dinge, die Du machen willst, bevor Du den Löffel abgibst. Das klingt doch nach einer To Do-Liste, die ganz viel Wollen und ganz wenig Müssen beinhaltet, oder? Und daraus ergeben sich, ich bin sicher, ganz wunderbare Ziele für Dein Leben, die viel größer und kraftvoller sind als die alten. Wenn Dir das dann bewusst wird, ist ganz bestimmt auch das Loslassen auf einmal ein Klacks. Ich hol‘ mir jetzt noch ’nen Kaffee. Den will ich nämlich gar nicht loslassen. Dafür habe ich durchgeschrieben und nicht eine einzige Ladung Wäsche gewaschen. Yes!
Was möchtest Du gern loslassen? Und was „musst“ Du so alles? Ich bin gespannt, von Dir zu hören.
Bis nächsten Freitag! Bleib klar.
Deine Saskia
About „musts“
To read this article in English, you had to scroll down all the way here. It starts right there. I must finally figure out how to make sure that my poor English-speaking readers don’t have to scroll through the whole German article to find the English version. I’ve had to for weeks. And still haven’t done it yet. I also have to publish a new article every Friday. And while I am writing this article, I absolutely have to wash two loads of laundry and remember to pay our cleaning man, whom I can hear rumbling in the background. And I finally have to learn to meditate and stop drinking coffee.
On a fairly normal day, around 10 a.m., I’m probably already at about 328 musts or have-tos that I still have to work through (argh!). I was talking to a friend the other day about letting go. She has a few things that she would like to let go of – and somehow it won’t work. At least not in the way she would like it to, I think. Since it was naturally quite easy for me to tell her what she should let go of („should“ is somehow pretty close to „must“…), I thought about what I could actually let go of myself.
As a performance child, this is no easy exercise for me. I define myself to a large extent by my inner checklist points that I have to tick off. Basically nothing speaks against it, because my biggest motivators “Hurry up” and “Be strong” have brought me to where I am today. At the same time, they might like to put their whips away from time to time and shut up. Let me be, with all my shortcomings, mistakes and, yuck, imperfections. It’s actually not about to-do lists, but about accepting myself. Or, to put it very pathetically: about love. For that, I think, we need an intensive examination of ourselves. And we all too often try to avoid this through permanent action and deflection. Quick, give me a smartphone, I’ve been sitting idly for 10 seconds!
When is it really worth it to „must“?
I consider the „must“ to be another form of deflection. It is, so to speak, an urgent impulse that often first comes from outside and then transfers to our inner being. We seldom question this must. Some musts are so ancient that we believe they belong to us. I think it’s worth taking a look there:
- When is it really worth it to „must“?
- When is ist not?
- Where can the „must“ be replaced by a „could“ or an „allow myself to“?
- Where even by „want to“?
But how does that work in practice? I think that here too it helps to ask myself what it would be good for if I had/could/would be xy. And what that would be good for. And what that would be good for. And so on. If at some point I come across a value, then it could be that this „must“ is actually worthwhile. My experience in coaching says that it takes an average of 5 questions of „What would that be good for“ before the value comes up. For example, you can find out whether these are old beliefs that, on closer inspection, have little or nothing to do with you, or whether there is more to it than that. These old beliefs are quite often a product of our socialization. If, for example, an adult that is important to me repeatedly signals to me in the course of my childhood that I am only okay if I behave in a certain way, then the chance (or danger) is great that it will turn into a belief for me. An example could be: I am only loveworthy if I am being kind . This is how, in a very simplified way, the drivers mentioned above are also created. For example, I have the belief deep down: I’m only okay if I’m quick. For me, this applies to both acting and thinking.
So when I have such powerful beliefs, they almost automatically make me „have to“. It is important to me to say that I have nothing against beliefs. Very often they are very helpful! To put it systemically: all beliefs are competencies and have a positive intention. The decisive factor is whether I recognize them, then reflect on them and check to what extent they are good for me. The context is extremely important for this. Not all of my beliefs are my friends in all situations, positive intention or not.
What I also find challenging when letting go is that I am passionate about setting and pursuing goals. And achieving them. In addition, goals are an essential part of my coaching and training sessions. And goals always include a must. Or not? A set goal that is let go on the way (or even before the start) initially triggers great resistance in me. That feels like failure. But when I think about my even stronger motive, the clarity, then I quickly notice that both are mutually dependent: By letting go, I have more clarity (aka focus on the essential goals that I WANT to achieve, I don’t have to), the clarity I achieve by asking „what for“ helps me to let go. Perhaps you would like to dig deeper now and ask me: “Which comes first, do you have more clarity when you let go, or do you let go easier when you have clarity?” I have to disappoint you. It is actually both. And that’s what makes it so powerful, I think.
To-do lists are totally okay. They give structure and park things from your brain on a piece of paper so that you have more space for important thoughts. I just invite you to question these lists. Especially if they don’t contain your to-dos at all, but those of others. The next time you think or hear yourself say: „I still have to …“, maybe stick to Helmut Schmidt, my favorite former German Chancellor. In response to annoying questions from journalists, he is said to have replied time and again: “Where is that written?” Naturally for him, he did so after deeply inhaling some nicotine. You can leave that out.
Perhaps it is also worthwhile to work on your bucket list more often instead of your to-do list. If you’re fairly new to this, like me: This is the list of things you want to do before you die. That sounds like a to-do list that contains a lot of „wants“ and very few „musts“, doesn’t it? And that results in, I am sure, very wonderful goals for your life, which are much bigger and more powerful than the old ones. When you become aware of this, letting go is definitely a piece of cake.
I’ll go get another cup of coffee now. I really don’t want to let go of my caffeine. The good news is: I wrote this article without stopping and did not do a single load of laundry. Yes!
What would you like to let go of? And what do you „have to“ do? I look forward to hearing from you.
Till next Friday! Stay clear.
Yours, Saskia