To read this article in English, please scroll down. Ich gebe es zu. Ich bin ein Sklave der Zeit. Gerade heute früh habe ich das wieder mal bis in die Haarspitzen zu spüren bekommen. Mein Sohn ist gestern selbst für seine Eulen-Verhältnisse spät eingeschlafen (es war so 20 vor 10) was meistens dazu führt, dass er am nächsten Morgen auch entsprechend später aufwacht. Er kann sich das erlauben, denn er hat den großen Vorteil, dass er die Uhr noch nicht lesen und sich voll auf seinen Biorhythmus verlassen kann („Mami, es ist doch noch dunkel draußen!“). Das glückliche Kind! Ich kann mich ehrlich gesagt kaum daran erinnern, wie sich das angefühlt haben muss, diese unendliche Freiheit. Wann geht das eigentlich los, dass man nur noch wie ein Getriebener von A nach B hetzt? Ich tippe auf die Schule als Wurzel allen Übels. Da beginnt schließlich der Ernst des Lebens, habe ich mir sagen lassen. Er hat also noch ein knappes Jahr. Das sei ihm von Herzen gegönnt. Er will noch nicht in den Kindergarten, obwohl wir dringend los müssen, sonst kommen wir zu spät und nicht mehr rein, weil um Punkt 9 gefrühstückt wird. Mich fordert das extrem, denn während ich tief durchatme und mir gebetsmühlenartig erzähle, dass es gut ist, wenn er auf Termine pfeift, tippt meine innere Antreiberin hinter mir ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden, verdreht genervt die Augen und macht schon mal die Peitsche klar. Als ich ihr dann schließlich schwächlich nachgebe und mich so hilfreiche Sätze sagen höre wie: „Jetzt reicht’s!“, schließt mein Sohn sich, schlau wie er ist, im Badezimmer ein. Das Ergebnis war dann, dass er mit uns zu Hause gefrühstückt hat statt im Kindergarten. Danach konnte ich ihn ganz entspannt, nur eine halbe Stunde später als geplant, in den Kindergarten bringen. Er wollte ganz einfach nicht so gehetzt werden. Als ich ihn gefragt habe, was er für Ideen hat, wie wir das morgens machen sollen, damit alle entspannt bleiben, war seine Lösung: Früher aufstehen. Falls er noch schlafen will, soll ich ihn wachkitzeln. So machen wir es dann jetzt also.
Ein paar Leute, darunter mein Bruder, haben mir nach dem Artikel übers Müssen geschrieben, dass sie auf fast schon klinisch auffällige Art ihren Selbstwert über das eigene Stress-Level definieren. Je Stress, desto Wert. Ich kenne das gut. Ich hätte es zwar eher so beschrieben, dass ich sehr zufrieden mit mir selbst bin, wenn ich aktiv bin, aber am Ende läuft es wahrscheinlich tatsächlich darauf hinaus, dass auch ich gern beifallsheischend davon erzähle, was ich gerade alles gleichzeitig um die Ohren habe. Je mehr ich zu tun habe, je weniger Zeit ich habe (kleine philosophische Zwischenfrage: Hat man Zeit eigentlich?), desto wichtiger fühle ich mich. Ist ja auch klar, ich habe das jahrelang im Konzern vorgelebt bekommen: Je wichtiger eine Person ist, desto weniger Zeit hat sie. Desto leichtfertiger und selbtverständlicher verfügt sie über die Zeit anderer, zum Beispiel, indem sie sie warten lässt. „Sie hat ja auch wenig Zeit“, hört man dann ehrfürchtig die Mitarbeiter murmeln.
Wir erliegen dem Irrglauben, dass wir nur dann wertvoll sind, wenn wir möglichst viel leiden. Wenn wir uns wie die Märtyrer aufopfern, alles geben für den Job, die Familie, die Anderen. Und uns selbst dabei hintan stellen. Oder, noch besser, ganz vergessen. Ich habe Tage, an denen ich so gegen 16 Uhr das erste Mal bemerke, dass ich noch nichts gegessen habe. Und selbst das schreibe ich nicht gänzlich ohne Stolz. Gleichzeitig bin ich enorm alarmiert. Wie krank ist bitte ein System, in dem wir Anerkennung dafür einheimsen, dass wir uns kasteien? Wer rastet, der rostet. Der frühe Vogel fängt den Wurm. Was Du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Diese Glaubenssätze sprudeln nur so aus mir heraus. Leicht mitleidig betrachte ich Menschen, die alles in Ruhe angehen. Die sowas sagen wie: In der Ruhe liegt die Kraft. Eile mit Weile. Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut. Meine innere Antreiberin gähnt. Laut. Dabei finde ich, dass diese Menschen viel weiter sind als ich. Sie scheinen verstanden zu haben, dass sie sich nur selbst schaden, wenn sie sich von Anderen ihren Zeitplan diktieren lassen. Wäre es nicht schön, in einer Welt zu leben, in der Langsamkeit ein Gut ist? In der nicht Leistung entscheidet, sondern Sinn? In der wir mit Stolz sagen: „Ich habe heute nichts zu tun.“? In der wir unsere Faulheit nicht verheimlichen, sondern sie als Achtsamkeit zelebrieren?
Kinder sind Meister der Achtsamkeit
Ich träume jedenfalls davon. Und ich übe mich täglich darin, einen Schritt mehr in die Selbstfürsorge zu gehen. Das gelingt mal besser, mal weniger gut. Und ich bin dankbar, dass ich mein Kind als Lehrmeister habe. Ich glaube, alle Kinder sind Meister der Achtsamkeit. Sie leben im Hier und Jetzt. Sie genießen den Moment, das, was ist. Deshalb fällt es ihnen vielleicht oft so schwer, sich auf plötzliche Veränderungen einzulassen, die sich nicht selbstbestimmt anfühlen, sondern von außen erzwungen. Sie machen sich keine Gedanken darüber, was war oder was sein wird. Und dann kommen die Erwachsenen und treiben ihnen das aus. Wir kommen mit Terminen, Zeitplänen, Stundenplänen. „Ich will mal einen Tag nirgendwo hin müssen.“ Das hat mein Sohn letztes Wochenende zu mir gesagt. Der hat gesessen. Und ward gleich darauf wieder vergessen.
Vor einigen Monaten, als viele von uns angefangen haben, viel oder nur noch von zu Hause aus zu arbeiten, sind manche in eine Art Loch gefallen, weil auf einmal so viel Selbstbestimmtheit möglich war. Hilfe, ich muss selbst entscheiden! Zum Glück hat sich das schnell geregelt, als alle entdeckt haben, dass man die bisher physischen Meetings 1:1 durch virtuelle Meetings ersetzen kann. Was für ein Segen, das Zeit-Korsett bleibt uns erhalten. Wir müssen nicht nachdenken, wie wir unseren Tag sinnvoll verbringen können, wir lassen uns einfach von Meeting zu Meeting hetzen. „Richtig arbeiten“ können wir dann, wie früher ja auch, morgens früh und abends spät, wenn die Meetings durch sind. Der Arbeitsweg fällt ja auch weg, da kann man noch mehr schaffen. Und, hach, ist das alles anstrengend. Ich armes Hascherl. Ich will aus dem Hamsterrad raus, aber bitte nicht aus dem goldenen Käfig.
„Anführer übernehmen nicht die Kontrolle. Chefs schon.“
Führungskräfte, die allen Ernstes Angst haben, ihre Mitarbeiter würden zu Hause nicht arbeiten, kann ich nur fassungslos und mit offenem Mund anstarren. Und davon gibt es nicht wenige. Ich höre das immer wieder, sowohl von Seiten der Führungskräfte als auch von den Mitarbeitern: „Bei uns funktioniert Home Office nicht.“ Eine Führungskraft, die überzeugt ist, dass ihre Mitarbeiter sich zu Hause ausschließlich einen faulen Lenz machen, ist zu bedauern. Der Kontrollverlust muss sich dramatisch anfühlen. Wenn ich so etwas höre, frage ich mich immer, mit welchem Menschenbild diejenige da so unterwegs ist. Control & Command ist so 90er. Oder noch oller. Und doch habe ich echtes Verständnis für diese antike Denkweise, denn sie passt zu meiner inneren Antreiberin. Die reagiert gut auf klare Strukturen und Vorgaben. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Oder? Ich bin überzeugt: Das Gegenteil ist der Fall. Die meisten Menschen, die so ähnlich sozialisiert sind wie ich, arbeiten im Home Office noch mehr als im Büro. Liebe Führungskräfte der so genannten alten Schule, habt Vertrauen – Eure Mitarbeiter sind gut konditioniert und haben ein sehr chef-freundliches schlechtes Gewissen, sobald sie sich einen Kaffee holen gehen. Mit Führung hat das für mein Empfinden allerdings nicht zu tun. Mein Sohn hat auch das vor ein paar Tagen auf den Punkt gebracht. Er erzählte mir davon, dass er jetzt, wo er zu den Ältesten im Kindergarten gehört, der neue Anführer der Jungsbande ist. Der Junge, der bisher der Chef war, ist jetzt in der Schule. Ich habe ihn gefragt, inwiefern sich denn ein Anführer und ein Chef voneinander unterscheiden. „Anführer übernehmen nicht die Kontrolle. Chefs schon. Anführer gehen nur manchmal voran“, war die weise Antwort eines Fünfjährigen.
Falls Du kein Kind zur Hand hast, das Dir erklären kann, wie das geht mit der Achtsamkeit und der Selbst-Führung, schau doch mal, ob Dir folgende Fragen zur Reflexion hilfreich erscheinen:
- Wann hast Du die Zeit das letzte Mal als Machtmittel gegen andere missbraucht?
- Wie oft und in welchen Situationen hörst Du Dich sagen: „Dafür habe ich keine Zeit.“?
- Wofür hättest Du gern mehr Zeit?
- Wenn es vielleicht gar nicht der Stress ist, der Deinen Wert bestimmt – was ist es dann?
Ich verdiene mein Geld mit dem Kopf, nicht mit dem Hintern. Deshalb stehe ich jetzt auch von meinem Stuhl auf und koche mir was Leckeres. Keine Sorge, es ist erst kurz vor 13 Uhr.
Und, weil’s so schön ist, zum Abschluss noch ein letzter Glaubenssatz-Kalenderspruch: Zeit hast Du nicht, Du nimmst sie Dir.
Bis nächsten Freitag. Bleib klar.
Deine Saskia
More stress, more value?
I admit it. I am a slave to time. Just this morning I felt it all the way to my fingertips. My son fell asleep late yesterday, even for his owl standards (it was around 9:40pm), which usually means that he wakes up later the next morning. He can allow himself that, because he has the great advantage that he cannot read the clock yet and can fully rely on his biorhythm („Mommy, it’s still dark outside!“). The lucky child! To be honest, I can hardly remember how it must have felt, this infinite freedom. When does it start that we rush from A to B like a crazy person? I think school is the root of all evil. That’s where the seriousness of life begins, I was told. So he still has just under a year. Let him enjoy that. He doesn’t want to go to kindergarten yet, even though we have to leave urgently, otherwise we’ll be late and won’t get in because breakfast starts at 9 o’clock sharp. This is extremely challenging for me, and while I take a deep breath and tell myself like a prayer wheel that it is good when he doesn’t give a crap about appointments, my impatient self taps the floor behind me, rolls her eyes in annoyance and has her whip ready to go. When I finally give in to her weakly and hear myself say helpful sentences like: „That’s enough!“, my son, clever as he is, locks himself in the bathroom. The result was that he had breakfast with us at home instead of in kindergarten. After that I was able to take him to kindergarten completely relaxed, only half an hour later than planned. He just didn’t want to be rushed like that. When I asked him what ideas he had about how we should do it in the morning so that everyone could stay relaxed, his solution was: get up earlier. If he still wants to sleep, I should tickle him until he’s awake. So that’s how we will do it from now on. Simple, right?
A few people, including my brother, wrote to me after the article about „musts“. They said that they define their self-worth through their own stress level in an almost clinically conspicuous way. The higher the stress, the higher the value. I know the feeling. I would have rather described it as saying that I am very satisfied with myself when I am active, but in the end it probably actually boils down to the fact that I, too, like to talk about all the things I am doing. The more I have to do, the less time I have (quick philosophical question: Do we actually have time?), the more important I feel. I have witnessed this behavior for years as an employee: the more important a person is, the less time they have. The more frivolously and naturally she controls other people’s time, for example by making them wait. „She has such little time,“ you hear the employees mumble in awe.
We succumb to the mistaken belief that we are only valuable when we suffer as much as possible. If we sacrifice ourselves like martyrs, give everything for the job, the family, the others. And put ourselves aside. Or, even better, completely forget about ourselves. There are days when I notice for the first time around 4 p.m. that I have not eaten anything. And even that I tell you with a little pride. At the same time, I am extremely alarmed. How sick is a system in which we get credit for chastising ourselves? If you rest, you rust. The early bird catches the worm. What you can get done today, don’t leave until tomorrow. Work before pleasure. These beliefs just gush out of me. I look at people with slight pity who know how to take it easy. They say things like: Keep calm and carry on. Haste makes waste. Rome was not built in a day. My impatient self yawns. Loudly. I find that these people are much further developed than me. They seem to have understood that letting others dictate their schedule is only going to harm them. Wouldn’t it be nice to live in a world where slowness is good? In which not performance, but meaning is decisive? In which we proudly say, „I have nothing to do today.“ In which we do not hide our laziness, but celebrate it as mindfulness?
Children are masters of mindfulness
I dream of that world. And I practice taking one step more towards self-care every day. Sometimes it works better, sometimes less. And I am grateful that I have my child as a teacher. I believe all children are masters of mindfulness. They live in the here and now. They enjoy the moment, what is. That is why it may be so difficult for them to embrace sudden changes that do not feel self-determined, but forced from outside. They don’t worry about what was or what will be. And then the adults come and drive that out of them. We force appointments, schedules, timetables on them. „I don’t want to have to go anywhere for just one day.“ That’s what my son said to me last weekend. That one really hit me. And was quickly forgotten again.
A few months ago, when many of us started to work a lot or only from home, some fell into a kind of hole because suddenly so much self-determination was possible. Help, I have to decide for myself! Fortunately, that was settled quickly when everyone discovered that you can replace the previous physical meetings 1: 1 with virtual meetings. What a blessing, the time corset will stay with us. We don’t have to think about how we can spend our day meaningfully, we just let ourselves rush from meeting to meeting. As in the past, we can „work properly“ in the morning and late in the evening when the meetings are over. The way to work is also eliminated, you can work even more, yay. And, boo-hoo, it’s all exhausting. Poor me. I want out of the hamster wheel, but please do not open the golden cage.
„Leaders don’t take control. Bosses do.“
I stare in disbelief at managers who are seriously afraid that their employees do not work at home. And there are quite a few of them. I hear this again and again, both from managers and employees: „We don’t work from home.“ A manager who is convinced that their employees are only lazy at home is to be regretted. The loss of control must feel dramatic. Whenever I hear something like that, I ask myself what image of people they walk around with. Control & Command is so 90s. Or even older. And yet I have a real understanding of this ancient way of thinking, because it fits my impatient self. She reacts well to clear structures and guidelines. Trust is good, control is better. Isn’t it? I am convinced that the opposite is the case. Most people who were socialized in the way I was work more from home than in the office, not less. Dear old school managers, have confidence – your employees are well conditioned and have a very boss-friendly guilty conscience as soon as they get up to make some more coffee. In my opinion, this has nothing to do with leadership. My son also got that one to the point a few days ago. He told me that now that he’s one of the oldest kids in kindergarten, he’s the new leader of the boys‘ gang. The boy who was the boss before is now in school. I asked him how different a leader and a boss are from each other. „Leaders don’t take control. Bosses do. Leaders only show the way sometimes,“ was the wise answer of a five-year-old.
If you do not have a child on hand who can explain how to live mindfulness and self-guidance, see if the following questions for reflection seem helpful to you:
- When was the last time you used time as a means of power against others?
- How often and in which situations do you hear yourself say: „I don’t have time for that.“?
- What would you like to have more time for?
- If it is not stress that determines your worth – what is it?
I make my money with my head, not my butt. That’s why I will now get up from my chair and cook something delicious. Don’t worry, it’s just before 1pm.
And, because it’s so much fun, to finish off with one last belief calendar saying: You don’t have time, you take it.
Until next Friday. Stay clear.
Yours, Saskia